Die Corona-Pandemie hat die Musiklandschaft nachhaltig verändert. Was früher als Notlösung galt, ist heute fester Bestandteil vieler Ensembles: das hybride Probenformat. Doch schon lange vor Zoom & Co. gab es Pioniere, die an der Vision arbeiteten, räumliche Distanzen beim gemeinsamen Musizieren zu überwinden. In diesem Artikel beleuchte ich die technischen Entwicklungen, aktuelle Möglichkeiten für reale Musikerlebnisse im Netz und ziehe Erfahrungsberichte von Musikern heran.
Die Anfänge: Visionen und erste Versuche
Bereits in den frühen 2000er Jahren experimentierten Entwickler mit Softwarelösungen für das gemeinsame Musizieren über das Internet. Ein Beispiel ist die Firma Steinberg, die mit dem Projekt „VST Connect“ (und Vorläufern) versuchte, Musiker:innen trotz großer Entfernungen synchron zusammenzubringen.
- Bereits 2005 gab es erste Sessions mit Steinbergs Lösungen.
- Damals waren schnelle Internetverbindungen selten; Latenzzeiten von über 100 ms waren üblich.
- Für professionelle Anwendungen war dies kaum praktikabel – für den „Normalmusiker“ schlicht nicht umsetzbar.
Trotzdem legten diese Projekte den Grundstein für spätere Entwicklungen. Die größte Hürde war (und ist teilweise noch immer) die sogenannte Latenz – also die Verzögerung zwischen dem Senden und Empfangen eines Tonsignals.
Technische Entwicklung: Von der Latenz zur Echtzeit
Verbesserte Internet-Infrastruktur
Mit dem Ausbau von Breitband-Internet und Glasfaseranschlüssen wurde es ab etwa 2010 möglich, Daten deutlich schneller zu übertragen. Das ermöglichte neue Ansätze für Online-Musikproben.
Spezialisierte Softwarelösungen
In den letzten Jahren sind zahlreiche Tools entstanden, die speziell auf die Bedürfnisse von Musikern zugeschnitten sind:
- Jamulus: Open-Source-Software für latenzarmes Musizieren.
- JackTrip: Entwickelt an der Stanford University, beliebt bei Chören und Orchestern.
- Soundjack: Browserbasierte Lösung aus Deutschland.
- VST Connect (Steinberg): Weiterentwicklung der frühen Steinberg-Lösungen.
- Unter 20 ms: Fast wie im selben Raum
- Bis 40 ms: Für viele Musikstile noch gut spielbar
- Über 50 ms: Spürbare Verzögerung, schwierig für rhythmisch präzise Musik
Hardware & Netzwerkoptimierung
Neben der Software spielt auch die Hardware eine Rolle:
- Externe Audiointerfaces mit niedriger Latenz
- Kabelgebundene Internetverbindung statt WLAN
- Optimierte Routereinstellungen (QoS)
Hybride Probenformate heute: Praxisbeispiele
Viele Ensembles nutzen mittlerweile hybride Formate:
- Präsenz plus Online-Zuschaltung:
Ein Teil probt vor Ort, andere schalten sich per Jamulus oder Zoom dazu – z.B. bei Krankheit oder weiter Entfernung. - Online-Gesamtproben:
Alle Mitglieder musizieren online gemeinsam – besonders in Lockdown-Zeiten erprobt. - Workshops & Coachings:
Dozenten werden digital zugeschaltet, während das Ensemble gemeinsam im Raum sitzt. - Studioaufnahmen auf Distanz:
Einzelne Stimmen werden separat aufgenommen und später zusammengesetzt („Overdubbing“).
Reale Musikerlebnisse im Netz – Wie nah kommt man ans Original?
Trotz aller Fortschritte bleibt das gleichzeitige Spielen „wie im selben Raum“ technisch herausfordernd – insbesondere über größere Distanzen oder instabile Verbindungen hinweg.
Möglichkeiten für ein gemeinsames Erlebnis:
- Lokal verteilte Ensembles:
In Städten mit guter Infrastruktur können Ensembles fast latenzfrei spielen (z.B. mehrere Räume in einer Musikschule). - Asynchrone Zusammenarbeit:
Jede:r nimmt seine/ihre Stimme einzeln auf; ein:e Tontechniker:in mischt alles zusammen (beliebt bei Chorprojekten). - Virtuelle Konzerte:
Live gestreamte Auftritte mit vorher produzierten Videos/Audiospuren. - Interaktive Plattformen:
Neue Ansätze wie „Metaverse“-Räume oder VR-Konzerte bieten innovative Formen des Zusammenspiels – allerdings noch experimentell.
- Physische Präsenz fördert nonverbale Kommunikation (Blickkontakt, Körpersprache)
- Gemeinsamer Klangraum fehlt oft online
- Emotionale Energie lässt sich schwerer transportieren
Erfahrungen aus der Praxis
Viele Musiker berichten von gemischten Gefühlen:
Vorteile
- Flexibilität bei Krankheit oder Entfernung
- Möglichkeit zur internationalen Zusammenarbeit
- Neue technische Kompetenzen werden erworben
Herausforderungen
- Technische Einstiegshürden (Software/Hardware)
- Frust durch Verbindungsprobleme/Latenz
- Fehlende emotionale Tiefe im Vergleich zur Präsenzprobe
Einige Ensembles haben hybride Formate als festen Bestandteil etabliert – etwa um regelmäßig Gastdozenten zuzuschalten oder Mitglieder einzubinden, die sonst nicht teilnehmen könnten.
Fazit & Ausblick
Hybride Probenformate sind gekommen, um zu bleiben – auch wenn sie das klassische Zusammenspiel im selben Raum nicht vollständig ersetzen können. Die technische Entwicklung schreitet rasant voran; neue Tools machen das gemeinsame Musizieren über Distanzen immer realistischer und zugänglicher.
Für viele Ensembles eröffnen sich dadurch neue kreative Möglichkeiten und mehr Flexibilität im Alltag. Gleichzeitig bleibt das Ziel bestehen, möglichst viel vom „echten“ Musikerlebnis ins Digitale zu übertragen – sei es durch bessere Technik oder innovative pädagogische Konzepte.
- Gute Vorbereitung & Technikcheck vorab
- Klare Kommunikationsregeln festlegen
- Geduld beim Umgang mit technischen Problemen
- Offenheit für neue Formate & Experimente
Vielleicht wird in einigen Jahren das gemeinsame Musizieren über Kontinente hinweg so selbstverständlich sein wie heute ein Videocall – bis dahin bleibt es spannend!
Hast du eigene Erfahrungen mit hybriden Proben gemacht? Welche Tools nutzt du? Teile deine Erlebnisse gern in den Kommentaren!